Memorial
Dresdner Neueste Nachrichten, 10.3.2003
Die Stimmung im jüdischen Gemeindehaus war beinahe gespenstisch, als fast auf den Tag genau fünfzig Jahre nach Stalins Tod der Diktator noch einmal in einer der übelsten seiner Taten beschworen wurde. (...) Dreizehn Repräsentanten der jiddischsprachigen Kultur der Sowjetunion, elf Männer und zwei Frauen, wurden an diesem Tag erschossen, nachdem sie zwischen September 1948 und Juli 1949 verhaftet worden waren. Die bis heute tragische Folge ihres Tods und des darauffolgenden Stillschweigen über diese Dreizehn ist, dass sie dadurch der Nachwelt fast völlig unbekannt geblieben sind. Zwar arbeitet Chajm Bejder, der aus Wolynien stammt, für die jiddische Literaturzeitschrift "Sowjetisch Hejmland" tätig war und jetzt Hauptredakteur der New Yorker jiddischen Zeitschrift "Di Zukunft" ist, an einem Lexikon jiddischer Schriftsteller, aber bei einem 82-Jährigen kann man den erfolgreichen Abschluss einer solchen Arbeit nur noch hoffen, jedoch nicht mehr sicher planen. So war das Memorial, das er den dreizehn Ermordeten gewidmet und dem Rocktheater zur Uraufführung überlassen hat, wenigstens ein Stück dieses umfassenden Plans.
Die neun Teile des Memorials, die alle mit der Anrufung "Gedenke, Elohim" beginnen, wurden von Hubert Witt ins Deutsche übertragen. Das kann aber nur ein erster Teil sein, denn viele Namen und Anspielungen im Werk sind ohne Erläuterungen nicht verständlich. Witt, der wie kaum ein Zweiter
Literaturwissenschaftler der DDR Verdienste um die Erschliessung und Verbreitung jiddischer Literatur hat, war auch einer der Rezitatoren. Er und vertretungsweise Ingrid Matern lasen die Dichtung mit förderlicher Sachlichkeit, die ein Abgleiten in Sentimentalität und Larmoyanz vermeiden half. Auch Uljana Sieber bediente sich diesen Tons bei den Gedichten der ermordeten Autoren. Für den musikalischen Rahmen sorgten Alla Sabejinskaja (Klavier) und Detlef Hutschenreuter (Saxofon) mit Teilen von Schostakovitschs Zyklus "Aus jüdischer Volkspoesie", die für diese Duobesetzung neu erarbeitet wurde. Völlig unbefriedigend waren Projektionen von Bildern Chagalls, weil die Projektionsfläche von den Fenstern in der Wand regelrecht zerlöchert wurde. Es war nicht leicht, nach Ende der Veranstaltung aus einer gewissen Erstarrung wieder aufzutauchen.